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„Die lokale Ebene sollte in Asylprozesse stärker einbezogen werden!“

Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung, spricht über den Abschluss der Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems

Das von der Europäischen Kommission im Rahmen von HORIZON 2020 geförderte Projekt „Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unter Druck und Empfehlungen für seine zukünftige Entwicklung“ (CEASEVAL) endet im Oktober 2019. Die Leiterin des Forschungsverbundes von 14 Hochschulen, Forschungsinstituten und Think Tanks Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Technischen Universität Chemnitz, schaut im Gespräch für „Uni aktuell“ zurück.

Mit welcher Zielsetzung startete das Projekt vor zwei Jahren?

Laut Ausschreibung der Europäischen Kommission war eine umfassende Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorzunehmen, angefangen bei den Regulierungsmustern auf europäischer und nationaler Ebene bis hin zu den konkreten lokalen Praktiken der Aufnahme von Asylsuchenden und der Behandlung ihrer Asylgesuche. Dabei sollten vor allem Diskrepanzen zwischen EU-Standards der Flüchtlingsaufnahme und nationalen Gesetzgebungen und ihrer Implementierung identifiziert und analysiert werden. Auf der Basis der Forschungsergebnisse sollten Handlungsalternativen für Teilbereiche des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entwickelt und in einem partizipativen Prozess mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren eine Einschätzung vorgenommen werden, an welcher Stelle Reformen greifen könnten.

Konnte der Forschungsverbund diese Ziele erreichen?

Ja, wir haben eine umfassende Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorgenommen und sowohl detaillierte Länderanalysen erstellt, als auch eine Analyse der Europäischen Regelwerke in Bezug auf Migration, Grenzsicherung und die Durchführung der Aufnahme- und Asylverfahren vorgenommen. Insgesamt wurde in 16 Ländern geforscht. Es wurden etwa 500 Interviews mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren sowie rund 100 Interviews mit Geflüchteten durchgeführt und ausgewertet. Bisher sind über 40 Publikationen aus dem Projekt entstanden, in denen die Teilergebnisse nachzulesen sind. Wie es geplant war, haben wir auf der Basis unserer Forschungsergebnisse Handlungsszenarien entwickelt und mit verschiedenen Akteuren im Rahmen von Gruppendiskussionen besprochen. Das war ein sehr intensiver Prozess.

Was sind die wesentlichen Ergebnisse?

Wir konnten als Effekt der stark gestiegenen Ankunftszahlen von Asylsuchenden in Europa eine verstärkte Zentralisierung von Entscheidungsprozessen ausmachen, d. h. vieles wurde auf nationalstaatlicher Ebene verankert, um rasch auf die Veränderungen reagieren zu können. So sinnvoll das auf der einen Seite war, so brachte es doch in ganz Europa viel Unfrieden auf der kommunalen Ebene: während sich die Kommunen bei vielen Entscheidungen übergangen fühlten, waren sie durch die Unterbringung von Asylsuchenden unmittelbar von den Entscheidungen betroffen. Ein zweiter Befund war, dass trotz der Bemühungen um eine europaweite Harmonisierung des Asylsystems die Heterogenität von staatlichen Asylsystemen eher zu- als abnahm. Gründe hierfür sind die Entwicklung von Ad-Hoc-Lösungen angesichts des damaligen Anstiegs der Geflüchteten-Zahlen, aber auch die gestiegene Zahl an Akteuren, die vor Ort im Aufnahmeprozess eine Rolle spielten und in die Steuerungsprozesse einbezogen werden mussten. Als positiven Effekt dieser Entwicklung konnten wir vielerorts sehr innovative Entwicklungen sehen, die durch die neuen Kooperationen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und die Beteiligung der Zivilgesellschaft zustande kamen. Ein weiterer wichtiger Befund betraf die öffentliche Meinungsbildung über Asylmigration. In allen Ländern konnten wir mehr oder weniger starke Politisierungsprozesse sehen. Vielfach waren die Debatten um die Fluchtmigration nicht faktenbasiert, und in vielen Ländern wurde das Thema für ganz andere politische Zwecke instrumentalisiert und die öffentliche Erregung absichtlich angeheizt. Das ist hochproblematisch, da viele daraus resultierende Politikansätze als Symbolpolitik bezeichnet werden können, die lediglich auf irrationale Ängste reagieren, anstatt proaktiv und sachlich an Problemlagen heranzutreten. Der Politisierungsprozess ging vielfach so weit, dass das öffentliche Vertrauen in europäische Politikansätze oder in das Europäische Projekt als solches verloren ging.

Wie bewerten Sie nun nach der Evaluierung das Gemeinsame Europäische Asylsystem?

Hinsichtlich der Funktionalität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unterscheiden wir eine technische und eine politische Komponente. Technisch gesehen wurde durch dieses System ein solider Standard für die Aufnahme von Asylsuchenden und die Durchführung der Asylverfahren entwickelt, das selbst in Stresszeiten prinzipiell funktionsfähig war. Die Betrachtung der politischen Komponente zeigte allerdings, wie volatil das System ist und welche schwerwiegenden Einflüsse die politische Seite auf die Architektur des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und die EU als Ganzes nehmen kann.

Gab es auch Überraschungen und Hürden bei der Projektdurchführung?

Ja, in der Tat. Überraschend, aber auch erfreulich, fand ich, dass unser umfangreicher Arbeitsplan in der vergleichsweise kurzen Zeit und mit der Vielzahl an beteiligten Akteuren tatsächlich punktgenau durchgehalten werden konnte. Und Probleme hatten wir bei der Feldforschung in den verschiedenen Ländern durchaus zu bewältigen, z. B. im Zugang zu Interviewpartnern. Auf Grund der starken Politisierung des Themas, waren viele Akteure, was die Beteiligung an Forschungsprojekten anging, sehr zurückhaltend geworden. Auch Regierungswechsel, wie in der Türkei, oder Gesetzesverschärfungen gegenüber Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. in Ungarn, waren nicht unbedingt förderlich. Aber letztendlich konnten alle geplanten Arbeitsschritte realisiert werden, was uns freut.

Welche Politikempfehlungen können Sie auf Basis der Projektergebnisse geben?

Ich möchte dies in drei wesentlichen Punkten zusammenfassen. Erstens: Die lokale Ebene sollte in Asylprozesse stärker einbezogen werden! In ganz Europa gibt es größere aber auch kleinere Städte, die eine stärkere Rolle bei der Aufnahme und Integration von Asylsuchenden spielen wollen. Derzeit herrscht dort große Frustration wegen des geringen Einflusses, den sie nehmen können, aber auch wegen zu geringer Ressourcen. Eine direkte Budgetierung aus EU-Geldern könnte hier einen großen Effekt haben, denn sie würde die gesellschaftlichen Integrationspotenziale erhöhen und damit auch die öffentliche Unterstützung für die Aufnahme von Asylsuchenden verbessern. Zweitens: Politische Akteure auf allen Ebenen sollten sich um eine transparentere Kommunikation und verantwortungsvolle Politikansätze bemühen, um eine stärker faktenbasierte Politik zu erreichen und damit auch zu einer De-Eskalierung der öffentlichen Diskurse beizutragen! Drittens: Für jedwede Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems benötigen die EU-Staaten zunächst eine gemeinsame Vision, möglichst im Geist der gegenseitigen Solidarität als eines der Basisprinzipien der Europäischen Union.

Und wie wahrscheinlich ist aus Ihrer Sicht die Umsetzung?

Für die stärkere Beteiligung der kommunalen Ebene gibt es eine wachsende Sensibilität auf EU-Ebene, und gerade die Bereitstellung eines EU-Budgets für Kommunen sollte umsetzbar sein. Hinsichtlich der Einsicht in eine Ent-Polemisierung der Diskurse und der Entwicklung einer gemeinsamen Vision wäre ich da skeptischer. Hier kommt es womöglich auf die Vorbildfunktion von herausragenden europäischen Akteuren wie Frankreich oder Deutschland an, ob sich das restliche Europa bewegen wird oder nicht. Ein gutes Zeichen sind ja die jüngeren Initiativen hinsichtlich einer Verantwortungsteilung bei der Aufnahme von aus Seenot geretteten Geflüchteten.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei Ihrer weiteren Forschungstätigkeit an der TU Chemnitz.

(Das Interview führte Mario Steinebach, Leiter der Pressestelle und Crossmedia-Redaktion.)

Hinweis: Die Ergebnisse des Projektes „Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unter Druck und Empfehlungen für seine zukünftige Entwicklung“ (CEASEVAL) werden am 1. und 2. Oktober 2019 auf der Konferenz "Refuge Europe – a question of solidarity?" an de TU Chemnitz präsentiert.

Mario Steinebach
28.09.2019

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